Ukraine, Mai 2022: Ein russisches Flugzeug schwebt über der Frontlinie. Der Typname lautet Orlan-10 – eigentlich handelt es sich um ein unbemanntes Aufklärungs- und Überwachungsflugzeug. Orlan (russisch für „Adler“) erkennt Ziele, die dann von Artillerie eingeebnet werden. Es ebnet den Weg für die Bombardierung ukrainischer Panzer, Munitionsdepots, Autos – und die Tötung von Zivilisten. Neuerdings rüstet Putins Militär die Orlan-10 aber auch mit Granaten aus. Russische Propagandavideos zeigen Soldaten, die Sprengsätze an ihren Flügeln anbringen, Drohnen fliegen, auf Ziele zielen, Granaten abfeuern. Die ukrainische Armee hat in den vergangenen Monaten mehrere Orlan-Drohnen abgeschossen.
Drohne fliegt mit Chips aus Thalwil ZH
Recherchen vom SonntagsBlick zeigen nun, dass die Drohne mit Schweizer Beteiligung fliegt – zumindest bisher. Herzstück ist ein Chip aus Thalwil ZH. Damien Spleeters arbeitet für Conflict Armament Research (CAR), das Waffen untersucht, die in Kriegsgebieten auf der ganzen Welt eingesetzt werden. “Unsere Leute in der Umgebung zerlegen die Geräte und sehen, was sie sind”, erklärt Spleeters. Die Orlan-10 besteht zu großen Teilen aus sogenannten Off-the-Shelf-Komponenten: Die meisten Einzelkomponenten stammen aus westlichen Ländern. Die Teile können frei im Handel – auch in der Schweiz – gekauft, dann aber zu Militärausrüstung zusammengebaut werden. Wie im Fall von Russland.
Militärische Ausrüstung wird untersucht
Das Team um die Spleeters lieferte den Beweis: Es sammelte und untersuchte militärisches Gerät in der Ostukraine, für das es seit acht Jahren kämpfte. Und auch eine 2016 gefundene Orlan-10 in ihre Einzelteile zerlegt. CAR-Ermittler entdeckten später, dass die Orlan-10 mit einem GPS-Modul flog, das von der Schweizer Firma U-Blox bereitgestellt wurde. Über mehrere Stationen gelangten die Einheiten über einen Vertriebspartner in Deutschland nach Russland – wo sie sich schließlich auf Orlan 10-Drohnen niederließen.
Seit 2016 im Einsatz mit Schweizer Chips
«Wir wissen mit Sicherheit, dass diese von Russland 2016 eingesetzten Drohnen mit diesem Schweizer GPS-Chip geflogen sind», sagt Spleeters. Theoretisch kann die Orlan-10 heute mit anderen Komponenten fliegen, es scheint unwahrscheinlich. „So wie die Orlan-10 ursprünglich gebaut wurde, kann sie ohne diese Komponente nicht fliegen“, sagt Spleeters. “Dieser Chip ist eine sehr wichtige Zutat.” Das Schweizer Unternehmen U-Blox wurde in den 1990er Jahren als Spin-off der ETH gegründet. Seitdem ist das Unternehmen gewachsen und nach eigenen Angaben in mehr als 28 Ländern weltweit tätig. Das Unternehmen verurteilt den russischen Angriff auf die Ukraine: „Wir haben diesen Chip nicht für militärische Zwecke vorgesehen“, sagte Sven Etzold, Leiter Business Marketing. “Das Problem: Es ist ein Modul, das Variablen verwendet werden kann.” Und tatsächlich: Das Unternehmen stellt Chips und Navigationsgeräte für alle Arten her – sie dienen Etzold zufolge unter anderem zur Ortung von Handys, Autonavigationssystemen oder automatischen Rasenmähern.
Die Produkte dürfen nicht in Waffen oder Waffensystemen verwendet werden
Doch wie kann Thalwil verhindern, dass eines seiner Produkte dabei hilft, Menschen zu töten? „Ab einer bestimmten Beschleunigung schaltet sich das GPS-Modul automatisch ab“, sagt Etzold. Das ist zum Beispiel bei einer Rakete der Fall, die enorm beschleunigen muss. „Mit einer Drohne ist das leider nicht möglich.“ Der Chip kann nicht nur anhand der Geschwindigkeit erkennen, ob das Flugobjekt, das zur Steuerung dient, militärisch genutzt wird oder nicht. Für solche Fälle setzt U-Blox auf Verträge mit Handelspartnern. Die AGB sagen klar: Die Produkte dürfen nicht in Waffen oder Waffensystemen verwendet werden. „2018 stellten wir jedoch fest, dass eines unserer 2012 verkauften GPS-Geräte in einer militärischen Anwendung eingesetzt wurde“, sagt Etzold.
Eine Vertragsverletzung hat keine Folgen
Ein Verstoß gegen diese AGB hat keine einschneidenden Konsequenzen, außer dass der jeweilige Handelspartner nicht mehr beliefert wird. „Das Problem bei internationalen Handelsketten: Firma A verkauft an Firma B, B verkauft an Firma C, C an D. Das macht es schwierig, eine Komponente wie den U-Blox-Chip zu überwachen.“ „Es ist sehr schwer zu sehen, wo etwas endet“, sagt Etzold. Die U-Blox-Komponente ist kein Einzelfall, denn die Schweiz will sich als Innovationsschmiede für Drohnentechnologie etablieren. Aber sie zögert, über ihr Potenzial für militärische Zwecke zu kommunizieren. Die Eidgenössische Öffentlichkeitsarbeit, Präsenz Schweiz, lanciert eine Kampagne, die den Einsatz von Schweizer Technologie für das Gute lobt. Ihre Website heißt „Home of Drones“. Einführung einer menschenfreundlichen Drohne Schweiz. Tatsächlich konzentriert sich die Schweizer Technologie und Forschung auf Drohnen für Rettung und Transport. Aber auch in Kriegsdrohnen.
Seco kennt den Fall
Dem für die Schweizer Exportkontrolle zuständigen Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ist unter anderem der Thalwiler GPS-Chip bekannt. In Zusammenarbeit mit anderen Bundesstellen erteilt das Seco Ausfuhrbewilligungen. Einer Sonderregelung unterliegen sogenannte Dual-Use-Güter, also Güter, die für politische und militärische Zwecke verwendet werden können. Die Schweiz orientiert sich dabei an internationalen Warenbeständen. Im Falle des GPS-Chips handele es sich nicht um solche Produkte, sagt Seco-Mediensprecher Michael Wüthrich. Daher unterlagen sie zum Zeitpunkt des Verkaufs im Jahr 2012 keinen Beschränkungen. „Viele der in Drohnen verbauten Komponenten sind industrielle Massenprodukte, die von diesen Warenkatalogen nicht erfasst werden“, sagt Wüthrich. Weder Elektromotoren noch Drohnenantriebe wie der Orlan-10 gelten als Dual-Use-Produkte.
Die Unternehmen haben nicht wissentlich gehandelt
Das Thema sei schwierig, sagt Drohnen-Spleeters-Forscher. Die einzelnen Komponenten des Orlan-10 sind eigentlich für den zivilen Einsatz bestimmt. “Aber die fertige Drohne ist eindeutig ein militärisches Produkt.” Schließlich heißt es im Bericht der CAR Group, dass es keine Beweise dafür gibt, dass die beteiligten Unternehmen wissentlich Militäraktionen in der Ukraine unterstützt haben. Der Export von Waren wie GPS-Chips nach Russland wurde nach den Sanktionen vom 4. März verboten. Auch dorthin stellte U-Blox nach eigenen Angaben nach der Eskalation des Krieges die Exporte ein. Forschungsnotizen Haben Sie Anleitungen für explosive Geschichten? Schreiben Sie uns: [email protected] Haben Sie Anleitungen für explosive Geschichten? Schreiben Sie uns: [email protected]